Sattgelesen

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Montag, 25. Oktober 2010
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5 min read
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Gestern war Sonntag. Ich sass bei Gianni, war satt, hatte ein halbes Lamm verspiesen. Natürlich bestellte ich nichts von der Karte, sondern wartete bis der Tisch hinter mir etwas bestellte und schloss mich dem einfach an. Das ist einerseits die Konsequenz von Giannis Gejammer, er hätte nicht dreihundert Pfannen in der Küche. Andererseits aber auch völlig egal, denn was auch immer man bestellt, es schmeckt hervorragend. Seine bescheidene nach Komplimenten angelnde Frage «und, schmöggts egli nach öppis?» beantworte ich jeweils mit einem Grinsen.

Nach einem abschliessenden Tiramisu und einer geschenkten Flasche Grappa, fiel mir plötzlich eine einsam auf dem Nebentisch herumdösende Sonntagszeitung auf. Fein säuberlich zusammengebüschelt, fast wie neu.

Als dieses dicke Bündel Papier dann so vor mir lag, wurde mir bewusst, dass ich seit Ewigkeiten keine Zeitungen mehr gelesen habe. Gut, ich war nie der Zeitungsleser. Trotzdem beschlich mich ein befremdliches Gefühl, nach langer Zeit wieder in einem solchen Stapel Papier rumzuwühlen.

Lieferung im Grossformat
Schnell begann ich mich über das viel zu grosse Format zu ärgern, schmiss beim Umblättern beinahe die Grappa-Flasche um und war völlig verwirrt, was jetzt Werbung, Publireportage oder Artikel sein sollte. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Sonntagszeitung in jeder Rubrik mit anderen Farben grosszügig Flächen füllt. Wie auch immer, ich schob genervt die Teile wieder ineinander und schaute mir mal die Titelseite an.

Da, ein Verweis auf etwas, das mich interessieren könnte: ein Artikel über Zusatzstoffe in Gipfeli und anderen Aufbackartikeln. Seite 72. Das Blätterrauschen ging wieder von Vorne los. Zufälligerweise landete ich nach ein paar Versuchen auf der gesuchten Seite. Grosse Aufmacherfotos. Viel Schwarz, in der Mitte eine Brotscheibe. Rundherum wenig Buchstaben.

Nun, kann man machen, dachte ich mir. Die Idee liegt wohl darin, aus wenig Text eine dicke Zeitung zu machen. Das Bild da müsste nicht so gross sein um genügend zu wirken. Also. Losgelesen. Erster Absatz, zweiter Absatz, dritter. Mein Lesetempo erhöht sich schnell, bald fliegen meine Augen nur noch über halbe Sätze.

Stichprobe, durchgefallen
Es wird mit Fachbegriffen geklotzt, da wirkt selbst Wikipedia wie ein seichter Roman dagegen. So ist also die Aufmacherseite des Artikels zu  80% mit dem Foto ausgefüllt, links und rechts je eine Spalte mit Fachbegriffen zu Zusatzstoffen. Der einzige halbspannende Satz ist der Hinweis, dass der wohl grösste Aufbackwarenhersteller der Schweiz Hiestand nicht verraten wollte, was sie alles so an Hilfsstoffen in ihre Produkte reinschmeissen. Muss nicht deklariert werden in der Schweiz, da diese Enzyme alle ab irgendwo 60 Grad eh verpuffen. Oder so. Genau weiss ich das nicht, habe den Artikel ja aus mangelnder Spannung dann überlesen. Medium Zeitung bei Stichprobe durchgefallen.

Ich legte die Zeitung wieder zusammengebüschelt auf den Tisch und bestellte noch einen doppelten Espresso bei Gianni. Und fragte mich, ob ich jetzt vor lauter Internet die gute alte Zeitung nicht mehr zu schätzen wisse. Der einzige Artikel den mich da auf Anhieb interessiert hat, fand ich schlecht geschrieben. Inklusive diesem Beigeschmack «ach, machen wir doch wieder Mal sowas Kassensturzmässiges, skandalträchtige Hintergrundinfos zu Fertigprodukten, das ist immer spannend, da regen sich die Leute dann auf und haben was am Stammtisch zu erzählen». Ich höre die Menschen manchmal einfach so reden. Ich kenne ja auch Menschen, die das wirklich interessant finden und solche Artikel als Aufklärung des Volkes verteidigen. Und nächstes Mal eben wieder beim Beck Gipfeli kaufen.

Buchstaben fürs Volk
Aber so einfach ist es doch nicht. Unsere Industrie beginnt sich doch nicht plötzlich bedingungslos um das Wohle des Volkes zu kümmern. Sondern es geht um Auflagezahlen und möglichst lange Haltbarkeit der Gipfeli. So kommt es auch, dass kaum eine Bäckerei noch selber Laugengipfeli herstellt. Zu aufwändig, zu wenig lange haltbar. Und schon steht der Herr Hiestand lächelnd vor der Bäckerei. Dabei mag ich die so, diese Laugengipfeli.

Nehmen wir zum Beispiel die Züpfe aus dem Chrigu Beck in Burgdorf: der Chrigu, der ist ein giziger Kerli und guckt, dass da möglichst wenig Butter verwendet wird. Also wenn man den Zopf am Samstag kauft, sollte man sonntags früh aufstehen, damit der noch nicht ganz trocken ist. Abends kann man dann damit Baseball spielen oder Enten füttern. So. Und dann kauft man in der Migros einen Butterzopf. Tja, der hält bis am Montag Mittag. Verkehre Welt. Der Chrigu muss sparen, da er sonst den Laden dicht machen muss und die Migros haut etwas mehr Anke rein. Fairerweise muss ich noch die Züpfe der Bäckerei Winz in Utzenstorf erwähnen: die macht meistens bis Mittwoch einen frischen Eindruck.

Ich glaube nicht, dass ich lesefaul bin. ich lese viel im Internet. Ich lese auch dauernd Bücher. Also Romane. Aber der Unterschied liegt darin, dass ich mir selbst aussuche, was ich lesen will. So wie ich einen Buchclub immer unsinnig fand, der mir monatlich Bücher zuschicken würde, sagt mir dieses Zeitungsabonnement nicht zu. Oder das Fernsehen. Ich habe mir jetzt einen Apple TV gekauft. Jetzt gucke ich mir Filme oder Podcasts an, wann ich will und was mich interessiert. Ich glaube, Menschen die cool klingen möchten sprechen von Push- und Pullmedia. Ich spreche lieber davon, dass ich bestimmen will, mit welchen Informationen, Bildern, Geschichten und Nachrichten ich mich berieseln lassen möchte. Ob digital oder auf Papier ist mir relativ wurscht.

Null Ahnung und doch verbloggt
Keine Ahnung, was ich nun genau mit diesem Artikel sagen wollte. Vielleicht wurde ich hier tippend im Zug zwischen Zürich und Bern leicht abgelenkt. Vom Kondukteur mit diesem fiesen Mundgeruch. Oder von der blonden Dame, die ihren Freund unabsichtlich genau ans falsche Ende des Zuges mit ihrem Handy lotste. Aber vielleicht können wir nicht einfach dem Gratis-Informations-Internet die Schuld in die Schuhe schieben, dass die Geschichte mit den Zeitungen nicht mehr so läuft wie früher. Vielleicht ist es auch gefährlich, Schlussfolgerungen via Gratiszeitungen zu ziehen. Denn die Zukunft liegt sicher nicht im Gratiswahn. Sondern in der modernen Zulieferung von personalisierten Nachrichten, Artikeln, Filmen und anderen medialen Inhalten. Wir modernen Internetmenschen haben bemerkt, dass wir nicht mehr abhängig von einem Verlagshaus sein müssen, da wir uns unser persönliches Newspaket selbst im Internet zusammenstellen können. Und genau hier sitze ich und warte, bis der erste Verlag mir ein zeitgemässes Angebot vor die Finger legt.

So bequem gönne ich es mir zu sein.

 

Update: ich machte mir auch später noch Gedanken zu Nichtzeitungsleser.

Tagged: medien | wissen
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